An Mahmud Azhar erinnert sich an der Freien Universität heute fast niemand mehr. Vor 24 Jahren, am 07. Januar 1990 wurde der in Pakistan geborene FU-Student Opfer eines gewaltsamen, rassistischen Übergriffs auf dem Campus dieser Hochschule. Er verstarb zwei Monate später am 05. März 1990 an den unmittelbaren Folgen seiner erlittenen Verletzungen. Ein Gedenken an Mahmud Azhar findet weder an dieser Universität noch anderswo in Deutschland statt. Es besteht eine unabdingbare Notwendigkeit das zu ändern und den unerträglichen Zuständen, die dieses Vergessen möglich gemacht haben, offensiv zu begegnen.
Dieser Artikel schafft es nicht, viel über das Leben Mahmud Azhars zu erzählen. Vielmehr wird auf Grundlage von Archivmaterialien über den rassistischen Mord an ihm und den darauffolgenden öffentlichen und universitären Reaktionen, über die Initiativen und den Gerichtsprozess gegen den Täter berichtet. Das ist unter anderem deshalb problematisch, weil über den Menschen Mahmud Azhar nur anhand des rassistischen Angriffs auf ihn selbst geschrieben wird.
Leider ist es uns noch nicht gelungen in ausreichender Weise mit Angehörigen, damaligen Kolleg_innen und Aktivist_innen in Kontakt zu treten, um diesem Umstand Rechnung zu tragen.
Weil nicht schon wieder ein Jahr ohne ein Gedenken an Mahmud Azhar vorübergehen kann, haben wir uns dennoch dazu entschieden, in diesem Artikel Material über diesen rassistischen Mord zusammenzutragen, um die Erinnerung an ihn in die Öffentlichkeit zurückzutragen.
Mahmud Azhar war seit Mitte der 1970er Jahre Promotionsstudent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Biochemie der FU Berlin, das 1990 noch in einem Gebäude am Ostpreußendamm 111 in Berlin Lichterfelde untergebracht war. Zum Zeitpunkt seines Todes war er 40 Jahre alt und hätte im Mai 1990 seine Promotion abgeschlossen.
Am Abend des 07. Januars 1990 wurde Mahmud Azhar beim Verlassen des Instituts von dem angetrunkenen DDR-Bürger Thomas H. auf dem Parkplatz vor dem Gebäude angetroffen, rassistisch beschimpft und bedroht:
“Dort setzte der Unbekannte seine Beleidigungen und Beschimpfungen (z.B. Scheiß-Ausländer! Was wollt ihr hier? Deutschland den Deutschen. Ihr habt unsere Arbeitsplätze weggenommen. Ihr sollt verrecken. Dich bringe ich um.) fort.”
Azhar versuchte im Institutsgebäude zwei Mal vergeblich die Polizei zu rufen. Dort wurde er von dem alkoholisierten Täter niedergeschlagen und mit Teilen eines Feuerlöschers am Kopf verletzt. In einem protokollierten Gespräch mit einem Arbeitskollegen erklärte Azhar später, dass er nicht zurückgeschlagen habe, weil “der Täter ein Deutscher sei” und er gefürchtet habe,
“(…) die Polizei könne ihm (Azhar) die ganze Schuld geben und eventuell seine Ausreise veranlassen, so daß der Abschluß seiner Promotion in Gefahr geraten wäre.”
Die Westberliner Polizei reagierte erst auf den dritten Notruf, den ein vorbeifahrender Taxifahrer abgesetzt hatte. Mahmud Azhar wurde ins Krankenhaus gebracht. Thomas H. wurde kurzzeitig festgenommen und nach seiner Vernehmung, bei der er sich angeblich an nichts mehr erinnern konnte, wieder freigelassen. Wie nicht anders zu erwarten setzte sich der 25-jährige Täter nach Ostberlin ab, wo er für die Westberliner Behörden nicht auffindbar war.
Noch im Krankenhaus empfing Azhar, als die Ermittlungen bereits angelaufen waren, einen Brief der Staatsanwaltschaft, die ihn darüber informierte, “daß das Verfahren zur Zeit nicht fortgesetzt werden kann, da der Aufenthalt des Beschuldigten nicht bekannt ist.” Der Brief endete mit der zynischen Bitte, “[f]alls Sie Kenntnis von seinem Aufenthalt erhalten, bitte ich um Nachricht zu der oben angegebenen Geschäftsnummer.”
Nach zwei Monaten Krankhausaufenthalt starb Mahmud Azhar in der Nacht vom 05. auf den 06. März 1990 an den unmittelbaren Folgen des auf ihn verübten rassistischen Angriffs.
„Wir lassen unsere Wut aus, ein paar Leute sehen hin – und dann ist alles wieder vergessen.“
In Berlin gründete sich als direkte Reaktion auf Azhars Tod das “Aktionskomitee Mahmud Azhar”, das zusammen mit mehreren solidarischen und antirassistischen Gruppen wie der Pakistanischen Studentischen Vereinigung, OROMO Horn von Afrika-Zentrum e.V., dem Flüchtlingsrat Berlin, AK Antifa-Info in Moabit und dem AStA FU eine Demonstration und mehrere Mahnwachen organisierte. An der Demonstration am 24. März in Westberlin beteiligten sich 300 Menschen. In der “interim”, einer Zeitschrift der autonomen Szene Berlins, erschien ein von diesen Gruppen verfasster Nachruf unter dem Titel “Wir trauern um unseren pakistanischen Freund Azhar, der letzte Woche, im Alter von 40 Jahren starb, weil er ein Ausländer war”.
Darin mahnten die Verfasser_innen:
“Wir alle wissen, daß sich die Überfälle auf AusländerInnen besonders seit dem Wahlerfolgen der Reps und dem am 09.November 89 beginnenden Vereinigungstaumels gehäuft haben. So wurden z.B. im letzten Jahr die beiden türkischen Mitbürger Üzüm Sadik und Ufuk Sahin aus rassistischen Motiven heraus ermordet; so ist auch Azhar nur das vorläufig letzte Opfer des beängstigend zunehmenden Ausländerhasses.”
Eine kontinuierliche Gedenkarbeit für Mahmud Azhar gestaltete sich unter den Vorzeichen der anhaltenden Studierendenproteste sowie dem in der deutschen Einigungsgesellschaft überbordendem Nationalismus und sich weiter verschärfenden rassistischen Klima schwierig. Bereits im Sommer 1990 wurde der öffentliche Umgang mit dem gewaltsamen Tod Mahmud Azhars im “Antifaschistischen Infoblatt (AIB)” kritisiert:
“Insgesamt wurde der Vorfall in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Ebenso wie der staatliche Rassismus in Form verschärfter Ausländergesetze ist der rassistische Terror auf der Straße kein Thema für die bürgerlichen Medien. Die Zusammenhänge sollen im Dunkeln bleiben.”
Diese erwähnten Zusammenhänge charakterisierte das Aktionskomitee wenige Monate später einem Flugblatt in aller Deutlichkeit:
“Die Hoffnungen auf mehr Freiheit und Freizügigkeit nach der Öffnung der Mauer verwandelten sich für einen Teil der Bevölkerung Berlins in einen Alptraum. Ost-Berlin und Teile West-Berlins sind v. a. für ImmigrantInnen, Flüchtlinge und schwarze Deutsche faktisch zum gesperrten Gebiet geworden. Rassistische Beschimpfungen und tätliche Angriff von Neo-Faschisten und Skinheads und von ganz “normalen” BürgerInnen und die letztliche Mittäterschaft der passiven ZuschauerInnen sind Alltag geworden.”
Dabei existierte sogar in den Führungsebenen der Freien Universität Berlin ein rudimentäres Bewusstsein für diese gesellschaftlichen Verhältnisse und die Bedeutung des rassistisch motivierten Mordes an Azhar. In einem internen Vermerk an den Präsidenten der FU Berlin hieß es in nüchterner Verwaltungssprache:
“Es ist nicht ausgeschlossen, daß dieser Fall im gegenwärtigen politischen Klima bei der Presse und in der Öffentlichkeit ein besonderes Interesse auf sich zieht. Es wird vorgeschlagen, daß die FU auf den Tod des Herrn Azhar mit einer Todesanzeige bzw. einem Nachruf reagiert, die/der der Besonderheit des Falles Rechnung trägt.”
Auf Initiative von Azhars Kolleg_innen im Institut für Biochemie entstand ein Nachruf, der in der Info-Zeitschrift der Universität, dem fu info, abgedruckt wurde. Dabei beließ man es.
Das Aktionskomitee Mahmud Azhar sah sich bald gezwungen das Präsidium der FU dafür zu kritisieren, dass darüberhinaus nie ein Nachruf in den Berliner Tageszeitungen veröffentlicht wurde, der eine breitere Öffentlichkeit erreicht hätte.
Überhaupt nahm der universitäre Umgang mit dem gewaltsamen Tod Mahmud Azhars groteske Züge an. Die FU-Verwaltung verwehrte seinen Angehörigen nach dessen Tod vorerst das Sterbegeld und verschleppte die finanzielle Unterstützung für die Überführung des Leichnams nach Pakistan. Erst mehrfache Beschwerden von Institutangestellten und studentischen Initiativen konnten die FU zu einem sogenannten “unbürokratischen” Umgang bewegen.
Im Akademischen Senat (AS) der Freien Universität entwickelte sich eine lange Diskussion um die Mahntafel, die zum Gedenken an Azhar am Institut für Biochemie angebracht werden sollte. Da ein endgültiger Termin für einen Gerichtsprozess lange nicht feststand und tatsächlich erst ein dreiviertel Jahr nach Azhars Tod angesetzt wurde, verzögerten die zuständigen FU-Stellen eine Entscheidung über die Inschrift der Gedenktafel.
Da noch keine juristische Verurteilung stattgefunden hätte, argumentierte man, dass über das rassistische Tatmotiv angeblich keine Klarheit bestehen würde. Ein Verweis auf den rassistischen Hintergrund des Angriffs oder gar die Bezeichnung ‘rassistischer Mord’ hätte damit nach Einschätzung der FU-Offiziellen juristisch keinen Bestand gehabt.
Dabei ging bereits aus den dem Präsidium bekannten Gedächtnisprotokollen einiger Zeug_innen hervor, unter welchen rassistischen Parolen Mahmud Azhar schließlich zusammengeschlagen wurde.
Außer durch einen AS-Beschluss am 09. Mai 1990 rührte sich die Freie Universität öffentlich weiter nicht. Der Beschlusstext geriet zudem äußerst unverbindlich:
“Aus Anlaß des Todes von Mahmud Azhar ruft der Akademische Senat alle Angehörigen der FU auf, gegen Rassismus und zunehmende Ausländerfeindlichkeit aktiv Stellung zu beziehen.”
Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Rassismus als Ursache für den Tod Azhars und dessen Bedeutung als gesellschaftsimmanenten Unterdrückungsverhältnis, das auch vor einer Hochschule und deren Mitglieder nicht halt macht, lässt sich darin nicht erkennen.
Die tageszeitung hatte noch im März des selben Jahres geschrieben:
“Weder die Ausländerbeauftragte noch die Freie Universität wollten sich näher zu dem Fall äußern. Der FU ist bislang offenbar nicht mehr eingefallen, als gegen den Täter Anzeige wegen Sachbeschädigung zu erstatten, weil dieser beim Angriff auf den pakistanischen Wissenschaftler einen Feuerlöscher kaputt gemacht hatte. Die Ausländerbeauftragte wollte sich erst einmal mit den Hintergründen vertraut machen, bevor sie eine ausführlichere Stellungnahme abgebe.”
Tatsächlich beteiligte sich die Universität nicht als Nebenklägerin am Verfahren gegen Thomas H. Wiederholt wurden die verantwortlichen Stellen dafür kritisiert und aufgefordert sich in dem Strafverfahren zu engagieren. Nach Prüfung durch das Rechtsamt der FU und dem Anwalt, der die Angehörigen Mahmud Azhars vertrat, schien eine Beteiligung an dem Verfahren, das am Ende des Jahres 1990 begann, als Nebenklägerin wohl nicht möglich zu sein.
“Wir dürfen den Prozeß nicht unbeobachtet vorbei gehen lassen.”
Angehörige, Kolleg_innen und Unterstützer_innen mussten mehrere Monate in Ungewissheit verbringen, bis das Gerichtsverfahren gegen den Mörder von Mahmud Azhar am 17. Dezember 1990 eröffnet wurde.
In einem Ende Juli in der taz veröffentlichten Artikel unter dem Titel „Wird der Täter überhaupt bestraft?“wurde berichtet, dass Thomas H. “unbehelligt” in der DDR leben konnte, weil die Westberliner Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen ihn für “unverhältnismäßig” hielt. Schließlich wurde das Verfahren ganz an die sich in chaotischer Umstrukturierung befindende Justiz der DDR übergeben. Die im Zeitungsartikel eingangs gestellte Frage konnte zu diesem Zeitpunkt mit ‘möglicherweise gar nicht’ beantwortet werden.
Die Hoffnung auf ein “gerechtes”, zumindest aber scharfes Urteil schien unter den Unterstützer_innen nicht besonders groß. Diese Skepsis nährte sich so auch aus den Erfahrungen anderer Prozesse, wie das Antifaschistische Infoblatt aus Berlin herausstellte:
“Wenn es überhaupt in diesem Fall zu einem Gerichtsverfahren kommt, ist zu erwarten, daß die Tat wieder einmal zum “Einzelfall” erklärt werden wird. Schließlich wollten bei dem Mörder von Ufuk Sahin weder Gericht noch Staatsanwaltschaft in AusländerInnenhaß und Rassismus einen Grund für die Tat erkennen und sorgten für ein mildes Urteil.”
Ähnliches äußerte auch das Aktionskomitee Mahmud Azhar über ein Flugblatt. Es sei unklar, ob das Gericht wirklich versuchen würde, den rassistischen Hintergrund der Tat aufzuklären oder ob sie wie üblich als Einzelfall ohne rassistisches Motiv verharmlost werden würde. Weiter heißt es:
“‘Deutschland den Deutschen’ und ‘Ich bin Deutsch, du hast hier keine Rechte’ rief der Täter Mahmud zu. Diese Sätze sind nicht Aussagen ‘eines isolierten Einzelnen’; sie werden immer deutlicher zur Grundlage deutscher Politik.”
Am 20. Dezember 1990 erging das Urteil gegen den Mörder Azhars. Der Täter wurde nur zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt.
“Daß Rassismus das Motiv für den Überfall sein könnte, hielt [Staatsanwalt] Wedhorn für nicht beweisbar, obwohl der Angeklagte sein Opfer mit ausländerfeindlichen Sprüchen beleidigt habe. Im Zweifel müsse für den Angeklagten entschieden werden. Eine Verurteilung wegen ‘Körperverletzung mit Todesfolge’ hielt Wedhorn für falsch, da der Tod des Opfers für den Angeklagten zur Tatzeit ‘nicht vorhersehbar’ gewesen sei. (…)
Das Gericht schloß sich in seiner Urteilsbegründung weitgehend den Ausführungen der Staatsanwaltschaft an, blieb jedoch noch unter dem Strafmaß, das der Verteidiger für seinen Mandanten vorgeschlagen hatte. Der Haftbefehl gegen den Angeklagten wurde aufgehoben.”
Neben den vielen negativen Reaktionen fiel das Urteil der Berliner Morgenpost dagegen geradezu abscheulich aus. Titel des Prozessberichts: “Das Gericht trotzte öffentlicher Vorverurteilung.”
Der Ausgang dieses Gerichtsprozesses legt sich fast wie eine Blaupause über viele folgender Verfahren, die sich mit Morden durch Rassismus und Neonazismus auseinandersetzten. Sofern diese Verbrechen überhaupt vor Gericht gebracht wurden.18 Die Geschichte jedes einzelnen Mordes ist für sich genommen eine Gräueltat, schwer zu fassen, erschütternd und in ihrer gesellschaftlichen Ahndung oder etwa Prävention unfassbar unzureichend und perfide.
Es lässt sich insgesamt schnell feststellen, dass “rechtsextreme [ebenso wie rassistische; Anmerk. d. Verf.] Gesinnungen oder Motive in Prozessen zwar zur Kenntnis genommen, aber im späteren Urteil nicht als tragend bewertet [wurden].” Eine juristische Neubehandlung liegt auch beim Mord an Mahmud Azhar ebenso wie eine Anerkennung von offizieller Seite in weiter Ferne:
“Mahmud Azhar wird in der Liste der Todesopfer rechter Gewalt genannt, weil er aufgrund einer rassistischen Motivation des Täters getötet wurde. Er hat in der Liste jedoch die Ziffer ‘0’, weil eine Anerkennung von offizieller Seite durch die Bundesregierung ausgeschlossen werden kann. Die Bundesregierung führt eine Statistik über Todesopfer rechter Gewalt nämlich erst ab dem 3. Oktober 1990. Infolgedessen wird Mahmud Azhar von der offiziellen Statistik nicht erfasst.”
Dazu sollte angemerkt werden, dass sich die Zahl der von der Bundesregierung anerkannten Morde erheblich etwa von den Statistiken der Amadeu-Antonio-Stiftung unterscheiden – 58 zu 183.
“Wer erinnert sich noch an Mahmud Azhar?”
Die langen politischen Auseinandersetzung um die geplante Gedenktafel endeten mit dem rechtsgültig gewordenen Gerichtsurteil. Am 15. Januar 1991 wurde die Gedenktafel für Mahmud Azhar im Institut für Biochemie im Ostpreußendamm 111 in Berlin Lichterfelde enthüllt.
Das Institut ist vor Jahren aus diesem Gebäude ausgezogen. Heute sitzt hier eine Marketingfirma. Wem nützt eine dort von außen nicht sichtbare Gedenktafel heute? Wen mahnt sie und wen erinnert sie an Mahmud und dessen gewaltsamen Tod?
Die Tafel ist das einzige Relikt der Erinnerung an einen Menschen, der nie hätte vergessen werden dürfen.
Das ist umso unerträglicher, wenn man die offizielle Erinnerungspolitik und die rege Selbstvermarktung dieser Universität betrachtet. Hier rühmt man sich mit den vielen internationalen Gästen aus Politik, Wissenschaft und Kultur, deren Besuche für die Weltoffenheit der FU stehen sollen. An anderer Stelle hängen die überdimensionalen Porträtfotos der populärsten Alumni, mit denen sich diese Einrichtung schmückt.
Es gibt keine Gedenkveranstaltungen, keine Hinweise in Publikationen und auf Webseiten der Universität, kein öffentliches Gedenken. So als hätte es diesen rassistischen Angriff, als hätte es den FU-Wissenschaftler Mahmud Azhar hier niemals gegeben. So als wäre solch eine Tat an einer Universität wie dieser undenkbar.
“Rassismus in den Universitäten, im Zentrum gesellschaftlicher Aufklärung? Die aufgebrachten Reaktionen machen deutlich, daß viele diese Realität einfach nicht wahrhaben wollen.”
Dabei setzt sich Liste der Vorfälle, von rassistischen Übergriffen Dozierender, über immer neue rassistische und neonazistische Klosprüche an der FU bishin zu bekannten Fällen, in denen Mitglieder der Neuen Rechten Lehraufträge an Instituten wahrnehmen konnten, noch heute weiter fort.
Die derzeitigen Zustände sind dabei einer seit Jahrzehnten anhaltenden Entwicklung gefolgt. Aus der oben zitierten Broschüre der Antirassistischen Aktion (ARA) der FU Berlin heißt es an anderer Stelle weiter:
“Die Auseinandersetzung mit Rassismus, Neofaschismus und Rechtsextremismus an der FU darf nicht ‘bloß akademisch’ bleiben; sie muß verstärkt Bezug nehmen erstens auf die Sonderverantwortung einzelner Fachdisziplinen und zweitens auf diejenigen Faktoren, die besonders Studentinnen und Studenten für rechtsextremistische Anschauungen anfällig machen könnten. Insofern muß die Universität Raum auch für ‘erzieherische’ Prozesse schaffen. Es ist in diesem Zusammenhang ein Armutszeugnis, daß an der FU bisher nicht einmal ein Aktionstag möglich war, wie er am 29. Januar 1993 an der Technischen Universität stattfand, daß die finanziellen Mittel für die Gedenkstättenfahrten des Pfiff gestrichen wurden.”
Ebensowenig wie die deutschen Bildungseinrichtungen bei einer kritischen Auseinandersetzung mit Rassismus ausgespart werden dürfen, sollten bei einer Betrachtung der rassistischen Zustände an den Universitäten die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht außer Acht gelassen werden.
Erinnerungspolitik
Mahmud Azhar scheint auch in der Linken hierzulande vergessen worden zu sein. Das macht auf ein Problem aufmerksam, mit dem sich eine linke Erinnerungspolitik auseinandersetzt beziehungsweise auseinandersetzen muss: “Es reicht nicht, Opfer zu sein, um Öffentlichkeit in linken Milieus zu bekommen.”
Oder wie es eine Einzelperson Anfang 1991 in der interim als Resümee zum beendeten Prozess gegen Thomas H. formulierte:
“übrigens war am zweiten prozeßtag -trotz breiter mobilisierung- kaum eine/r aus der ‘szene’ im saal, was einmal damit zu tun haben könnte, daß prozesse eh selten besucht werden, oder damit, daß viele die hier vertretene position -nicht hinzugehn- von vornherein klar hatten und wegblieben — vielleicht auch damit, daß mahmud azhar keiner ‘von uns’ war — vielleicht hat es aber auch damit etwas zu tun, daß mahmud ‘ausländer’ gewesen ist?”
Dass heute zudem nach Bekanntwerden der Morde des “Nationalsozialistischen Untergrunds” von einem „neuen Ausmaß rechter Gewalt“ gesprochen wird, könnte den Eindruck erwecken, als hätten Rassismus und Neofaschismus erst seit der “Zwickauer Terrorzelle” Todesopfer gefordert. Dass die 183 bekannten Mordopfer rassistischer und neonazistischer Gewalt dagegen vergessen werden, nie erinnert oder offiziell anerkannt wurden, wird dabei genauso ausgespart, wie eine nie stattgefundene Auseinandersetzung mit dem innerhalb dieser Gesellschaft tagtäglich auftretenden Rassismus.
Im Januar 2014 jährte sich der rassistische Angriff auf Mahmud Azhar zum 24. Mal.
Die Chancen für eine offizielle Erinnerung an seinen Tod und des dem zugrunde liegenden rassistischen Tatmotivs liegen unter den jetzigen Verhältnissen denkbar schlecht.
Das allein kann aber nicht Ziel einer linken Gedenkpolitik sein. Dringlicher scheint viel mehr zu sein, einen Menschen in das Gedächtsnis dieser Universität zu rufen, an der es überhaupt möglich war, dass er vergessen wurde.
veröffentlicht in Out of Dahlem Nr.15