Offener Brief: Studieren in der Krise

Wir dokumentieren hier einen offenen Brief von Berliner Studierenden zum Wintersemester 2020/21, den wir unterstützen. Die anderen Unterstützer*innen und die Möglichkeit, zu unterschreiben, findet ihr hier: wintersemester-berlin.org

An die
Dozierenden,
Dekanate,
Hochschulleitungen,
Berliner Regierungsfraktionen
und den Staatssekretär für Wissenschaft und Forschung

Angesichts der bisherigen Ankündigungen für die Lehre im kommenden Wintersemester 2020/21 fordern wir von den Verantwortlichen an den Universitäten wie aus der Politik die Ermöglichung von Präsenzlehre in höherem Maße, als dies bisher geplant ist, eine auf Erfahrung der Studierenden basierende Verbesserung der digitalen Lehre und die Gewährleistung eines fairen Studiums durch die stärkere Einbindung von Studierendenvertreter*innen.

Wir müssen gegen Ende des Online-Semesters festhalten, dass die Lehre und die Inhalte unter den neuen Umständen gelitten haben (Protest gibt es auch auf Dozierendenseite, siehe dazu den offenen Brief praesenzlehre.com). Einerseits kommt es außerhalb des universitären Rahmens in vielen Fällen zu zusätzlichen Belastungen – vor allem zu finanziellen Schwierigkeiten durch wegfallende Jobs und zu psychischer Belastung durch das Fehlen sozialer Kontakte. Deshalb unterstützen wir die Forderungen des Bündnisses „Solidarsemester 2020“ bezüglich der finanziellen Situation von Studierenden, der Studien- und Prüfungsbedingungen in der Krisenzeit sowie hinsichtlich der Beschäftigungsverhältnisse von studentischen Hilfskräften und Dozierenden – siehe solidarsemester.de.

Andererseits ergeben sich auch innerhalb des universitären Rahmens große Schwierigkeiten unter den Umständen der digitalen Lehre. Mehrere studentisch organisierte Umfragen unter Studierenden zeigen: Das digitale Semester führt häufig zu einer deutlich erhöhten Arbeitslast und verstärkt soziale Ungleichheiten aufgrund von verschiedener technischer Ausstattung. Zudem sind viele gängige Prüfungsformen unter den herrschenden Umständen so gut wie undurchführbar, die Bibliotheken fehlen als ruhiger Arbeitsplatz und die Aufnahme- und Konzentrationsfähigkeit nimmt durch das ständige Arbeiten am Bildschirm ab. Vor allem aber ist dem Studium mit dem intersubjektiven Austausch die Basis jedes universitären Lernens entzogen. Dieser lässt sich in digitalen Formaten nicht ersetzen.

Wir fordern mehr Präsenzlehre in verantwortungsvollen Formaten!

Die aktuellen Planungen, denen zufolge eine Kombination von Präsenz- und digitaler Lehre vorgesehen ist, sollen Präsenzlehre für Gruppen von bis zu 40 Personen bei einem Mindestabstand von 1,5 m ermöglichen – so der „Planungsansatz für Studium und Lehre im WiSe 2020/2021“ der FU, Stand 05.06.2020. Während wir solche Teilnehmer*innenbeschränkungen entsprechend der Infektionslage für sinnvoll und notwendig erachten, hätte diese Abstandsregel in Anbetracht der räumlichen Bedingungen der Universitäten zur Folge, dass Präsenzlehre de facto nur für einen äußerst geringen Teil der Studierendenschaft stattfinden könnte: Die sehr geringe Zahl an Seminarräumen, die unter den genannten Bedingungen mehr als zehn Personen fassen könnte, böte nicht einmal den priorisierten Zielgruppen – u. a. Studierende der Studieneingangs- und Abschlussphase – die nötigen Räumlichkeiten für Präsenzlehre. In der Rost- und Silberlaube der FU Berlin etwa böten unter diesen Auflagen abgesehen von den drei Hörsälen nur zwei Räume Platz für Veranstaltungen mit 20 Leuten – Räume mit normalerweise 30–40 Plätzen wären teilweise nur für vier Anwesende zugelassen.

Da wir die Regelungen zum Infektionsschutz für unumgänglich halten, fordern wir das Semester zeitlich in beide Richtungen zu strecken und vermehrt Blockseminare anzuberaumen, um einer Überbuchung der Räume entgegenzuwirken. Sogenannte Praxisformate, die grundsätzlich nicht digital durchgeführt werden können, z.B. Labor- und Werkstattpraktika, sollen weiterhin in Präsenz stattfinden, die angemessene Personenzahl sollte auf entsprechender Fachbereichs- oder Institutsebene verwaltet werden. Zugleich sollten zusätzliche Tutor*innen- und Mentor*innenstellen geschaffen werden, um den ohnehin überbeanspruchten Mittelbau zu entlasten, eine möglichst flächendeckende Lehre in kleinen Gruppen zu ermöglichen und Studierenden Räume zu bieten, sich auszutauschen, gegenseitig zu unterstützen und niederschwellig zu beraten. Wir fordern außerdem spätestens zum Wintersemester die Einrichtung von Lese- und Arbeitsräumen für die Studierenden in den Seminarräumen, die aufgrund ihrer Größe nicht für Veranstaltungen genutzt werden können und daher ohnehin leer stehen.

Für die Durchführung von Präsenzlehre unter den gegebenen Hygienebestimmungen braucht es offensichtlich mehr Raumkapazitäten. Wir fordern, gerade in der aktuellen Situation in Raumfragen die Lehre gegenüber der Forschung zu priorisieren, um die Beeinträchtigung des Bildungsweges möglichst gering zu halten. Die FU beispielsweise hat in den letzten Jahren Gebäude verkauft und umgewidmet, die jetzt dringend gebraucht würden. Es müssen nun neue Räume angemietet und geeignete Gebäude, die vor allem für Forschung genutzt werden, auch für Lehre geöffnet werden.

Wir fordern bessere digitale Lehre!

Wir fordern, dass es für Studierende, die Risikogruppen angehören oder aus anderen Gründen nicht an Präsenzveranstaltungen teilnehmen können, in jedem Modul die Möglichkeit geben muss, auch digital an den verschiedenen Lehrveranstaltungen teilzunehmen. Eine weitere Verstärkung von Ungleichheiten hinsichtlich der Lernmöglichkeiten der Studierenden im nächsten Semester möchten wir verhindern. Auch alle anderen Studierenden werden im nächsten Semester weiterhin digitale Lehre in Anspruch nehmen. Wir fordern daher Verbesserungen in der digitalen Lehre auf Basis der Erfahrungen dieses Semesters, die z.B. aus studentisch organisierten Umfragen hervorgehen. Studierende müssen in den Entscheidungs- und Beratungsgremien maßgeblich mitbestimmen können.

Die Bedürfnisse variieren je nach Fach, erwähnen möchten wir aber z.B.:

  1. Online-Veranstaltungen mit über 20 Teilnehmer*innen ermöglichen keine Seminardiskussion, wir fordern daher kleinere und dementsprechend mehr Seminare. Ein großteils digitales Semester erfordert damit höhere Lehrkapazitäten.
  2. Teilnahmeleistungen dürfen nicht höher ausfallen als in den Studien- und Prüfungsordnungen vorgesehen. Sie können nicht nur aus dem Schreiben von Texten bestehen; um auf verschiedene Bedürfnisse zu reagieren, sollten Studierende in jeder Veranstaltung aus verschiedenen Formen aktiver Teilnahmeleistungen auswählen können.
  3. Das Format der Prüfungsleistung muss zu Beginn des Moduls prüfungsordnungskonform festgelegt sein und transparent kommuniziert werden.

Wir fordern Anlaufstellen zur Gewährleistung eines fairen Studiums!

Die aktuelle Situation führt zwangsläufig zu Unsicherheiten, wie Studien- und Prüfungsleistungen in den veränderten Formaten auszusehen haben. Ausgehend davon fordern wir die Fachbereiche auf, verbindliche Regelungen zu treffen, wie mit diesen Streitfällen umgegangen werden soll. Die Studiendekane und Prüfungsausschüsse sind aufgerufen, ihre Aufgaben der Qualitätssicherung wahrzunehmen. Es können neue Ombudsstellen nach dem Vorbild des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der FU geschaffen werden. Weiterhin weisen wir auf die Hochschulberatungen der ASten hin, die Studierende in Fällen zu hoher Arbeitsbelastung und Übertretungen der Studien- und Prüfungsordnung vertreten.

Neben diesen kurzfristig umsetzbaren Vorschlägen ergeben sich auch langfristige Forderungen, u.a.:

Wir beurteilen die digitale Lehre nicht pauschal als negativ und sehen die Vorteile, die sie für in ihrer Mobilität eingeschränkte, Erziehungsverantwortung tragende, chronisch kranke und andere Studierende mit sich bringt; hier sind in den letzten Monaten Veränderungen vor sich gegangen, die Vertreter*innen dieser Gruppen schon lange gefordert hatten. Gerade vor diesem Hintergrund wird die Notwendigkeit von Verbesserungen in der digitalen Lehre deutlich. Die Rücksichtnahme auf Risikogruppen und auf die sehr verschiedenen Bedürfnisse von Studierenden, deren Notwendigkeit dieses Semester noch deutlicher in den Vordergrund gerückt ist, sollte auch in Zukunft nicht zurückgenommen werden. Wir fordern daher die Abschaffung der Anwesenheitspflicht.

Schon vor dem Ausbruch der Pandemie waren überfüllte Seminare, zu kleine Räume und geringe Themenauswahl aufgrund einer zu geringen Anzahl von Seminaren ein Problem, die aktuelle Situation hat diese noch deutlicher hervorgekehrt. Wir fordern deshalb ein Ende der Unter- und Leistungsfinanzierung der Lehre, Entfristungen des Lehrpersonals, mehr Seminare, kleinere Seminargruppen und die stärkere Verankerung von Arbeitsgruppen in den Studienordnungen – nicht nur, um der Pandemie zu begegnen, sondern auch um langfristig gute Bedingungen für Lehrende und Lernende zu gewährleisten.